plattenkritik
die
kolossale jugend : heile, heile boches ende
der achtziger jahre gründet sich die gruppe kolossale jugend.
diese bahnbrechende hamburger band steht neben z.b. cpt. kirk&
oder blumfeld für den aufbruch in die ebenso legendäre
wie künstlerisch progressive, experimentell-radikale popszene,
die man als "hamburger schule" nun mal irgendwie kennt.
ihr debütalbum "heile, heile boches" markiert einen
stürmischen ausbruch aus dem vorstädtischen hintergrund
der bandmitglieder, die abgrenzung und den wiederstand gegen die
langeweile irgendwo im kreis pinneberg. der titel "bessere
zeiten" erinnert an eine der geburtsstädten, von dem,
was man sich auch in form eines eigenen labels (l'age d'or) selber
aufbaute. sänger kristof schreuf verkehrte zu dieser zeit in
der gleichnamigen pinneberger jugendkneipe mit leuten wie tobias
levin (cpt. kirk&), chris zenk (erosion) oder eben dem produzenten
carol von rautenkranz. mitlerweile ist diese kneipe ausgebrannt
und damit wohl auch die hoffnung auf veränderung. man merkt
auf dieser platte, die ebenfalls in pinneberg produziert ist, jedoch
nicht den geist der provinz, sondern den willen zu großem,
vielleicht mehr als musikalisch möglich war, was aber gerade
den unbedingten charme und das zwingende ausmacht. das
zweite und letzte manifest von kolossale jugend "leopard II"
lässt danach nicht lange auf sich warten. besonders
beim song "bitterwald" fällt mir eine gewisse, schöne
gefahr psychischer instabilität auf, die in meinen späten
teenage-jahren indie-musik für mich ausmachte. oder heißt
das rock'n'roll? der begriff ist egaler als man denkt, doch nicht
so egal, dass man ihn nicht formulieren will. man spürt in
jeder sekunde das gefühl dieser zeit -91- obwohl ich ein kind
war und nostalgie wohl sowieso die komplette antithese dieser platte
ist und von allem was sie will. für mich ist sie voll davon.
es ist natürlich auch eine sehnsucht an eine zeit, als es noch
mehr möglichkeiten zu geben schien und die geschichte des ortes,
in dem wir leben, noch beeinflussbarer erschien. der tod aller gesellschaftlichen
utopien - freilich nie in menschlicher form umgesetzt - vollzog
sich mit der deutschen einheit, aber - das muss auch erwähnt
werden - das zynische und spießige terrorregime der ddr, in
dem eine solche platte nicht vorstellbar gewesen wäre, starb
einen verdienten tod. text und musik sind hier gleichermaßen
wichtig. das gewicht der aussagen von kolossale jugend lässt
sich oberflächlich betrachtet etwa damit festmachen, dass die
verkaufszahlen ihres "haltsmaul, deutschland" t-shirts
fast mit denen von "leopard II" vergleichbar waren. aus
eben diesem slogan spricht die angst vor einem neuen deutschen nationalen
größenwahn, nachdem - sehr zum bedauern der politisch
motivierten band - die chance verpasst wurde, die ideen der ddr-oppositionellen
in ein neues land zu integrieren und stattdessen die ddr in das
alte deutschland helmut kohls eingegliedert wurde. der sieg ihres
feindbildes bestimmt dann auch viele lieder ihres zweiten albums.
die ebenso lebhaften wie übernervösen, radikalen und aufrührerischen
salven werden durch die musik auf eine sehr eindrucksvolle weise
und mit beängstigender dringlichkeit transportiert.
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