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plattenkritik

tocotronic - pure vernunft darf niemals siegen
vö: 17.1. (l’age d’or)

dunkel ist es draußen, auch während der wenigen sonnenstunden dieser kurzen tage. tocotronic kontrastieren diese stimmung mit ihrem neujahrsstreich nicht, schaffen aber transparenz für deren umstände. ein album zur zeitenwende, mit blick nach vorn und zurück. ein januskopf der mitten im jetzt kämpferische töne anschlägt und sich gleichzeitig einer düsteren romantik zuwendet, die keine vollständige durchschaubarkeit zuläßt.
es wird eine geschichte fortgeschrieben, die ihren anfang vor mehr als 11 jahren nahm. wir befinden uns in jenem fortsetzungsband, den tocotronic mit der single-veröffentlichung "this boy is tocotronic" aufgeschlagen hatten. im neusten kapitel tritt rick mcphail aus dem hintergrund der tourbegleitung und rangiert im eh schon gleichberechtigten bandalltag offiziell als protagonist. mit ihm einher geht eine akzentuierung der dialogischen gitarren, mal verzerrt gegen blues, dann zupfen gegen schrammeln. alles in allem schließt "pure vernunft darf niemals siegen" im stil an den vorgänger "tocotronic" an, nur die präsentation ist eine andere.
innerhalb von etwas mehr als einer woche wurde in einem berliner studio schnell und roh aufgenommen. dirk von lowtzow singt mit wuterfüllter stimme, man hört ihn atem holen, seine worte mit aller gewalt dehnen oder zerhacken, als hätte er sich spontan dazu entschieden. aber der zufall kann nicht den ton angeben, wenn eine sonor ins mikro geraunte stimme zur zweiköpfigen hydra oder zum echo ihrer selbst mutiert. aus dem delirium hinein in den kosmos.
tocotronic haben schon immer bei der kritik einen unstillbaren drang zum subtilen, zum wort und dessen bedeutungsschwangerer existenz genährt. ohne analysieren zu wollen oder in einen wettstreit ungleicher gewichtsklassen zu treten: tocotronics texte sind keine nebensache für rezensionen. auch für diese nicht, und damit spielen die menschen bei l’age d’or auch. würde sonst dem promo-exemplar der cd ein hochglanzheft mit den texten in a 4 format beiliegen? worte, deren referenzen im dunkeln liegen, nehmen eine form an, die sich ihrer ästhetik bewußt ist. stilmittel noch und nöcher und dennoch wirken zeilen wie: "du streichst mir über mein gesicht, gegen die welt gegen den strich, meine liebe dein verzicht, gegen die welt gegen den strich" nicht forciert. sie brennen sich ins gedächtnis, bleiben dort abrufbereit und im richtigen moment entfaltet sich ein refrain wie ein tuch, in das ich mich dann gerne einhülle.
"das hier ist kein wörterbuch", wohl wahr, und erstrecht keine bibel voller allegorischer momente. der songwriter als ewig wundernd reisender überschreitet gerne einmal die grenzen der sicherheit und das bringt dirk v. l. hier und da den vorwurf der ideologischen parole oder der snobistischen intellektualisierung ein. treffender könnte man den lyrics aufrührerisches betragen ohne nackenstarre unterstellen. oder einen romantischen individualismus in dem neben purer vernunft eben niemals reine harmonie siegen darf. jene harmonie, an die sich eine gesellschaft klammert, deren lieder von befindlichkeiten, deutschtum und rückzug ins private strotzen. vielleicht ist dieses "gegen die welt, gegen den strich" eine intensiv empfundene form der leidenschaft, die man mit erhobenem haupt vor sich hertragen muß, um nicht das gesicht gegenüber der bürgerlichkeit eines "neon"-lesers zu verlieren, wie er in den meisten von uns schlummert. wer angst vorm scheitern hat, bei dem bleibt die leidenschaft auf der strecke. dieses album liegt jenseits des scheiterns.
(ww)